Weisslingen – massenhaft unterwegs
Götterdämmerung am Brauiweiher
Wer steigt schon um halb zehn Uhr morgens am Wisliger Brauiweiher aus? Niemand. Deswegen blickten Kevin und ich auf, als der 9-Uhr-35er der Linie 640 abbremste, anhielt und eine dieser Blaugekleideten ausspuckte. Wir sassen auf der Holzbank am Weiher und machten Pause. «Eine Yaka», stellte ich verdutzt fest. Und dann, keine Ahnung, woher diese Eingebung gekommen war, fügte ich hinzu: «Wahrscheinlich können wir uns bald nicht mehr retten vor diesen Yakas!»
Natürlich bereute ich meinen Ausspruch sofort, denn Kevin lachte mich aus, wie immer, wenn ich laut denke: «Aber doch nicht hier bei uns, Emil, Alter! Das ist Wislig, nicht Hollywood!» Ich liess ihn lachen. «So ein Kinomärchen, pah», setzte er drauf, «das vergessen die schnell wieder.» Kevin schob sein Znünibrot zwischen die Kiefer, mechanisch und gedankenlos, wie er alles in seinem Leben anpackt. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihn an seine vielen Vorhersagen zu erinnern, die nicht eingetroffen waren: «Schule ist unwichtig.» «Greta wird mir treu sein.» «Der Chef macht mich zum Gruppenleiter.» Kevin würde auch diesmal nicht Recht haben. Diese erste Yaka war das Schneekügelchen, auf das die Lawine folgen würde, da war ich ganz sicher. Ein Film, der in den ersten drei Monaten weltweit 500 Millionen Dollar eingespielt hatte, sollte schnell vergessen gehen? Nein, Kevin, gewiss nicht.
Leise warf ich ein: «Volterra? Skellig Michael?» Kevin glotzte, kaute, schluckte. Ich hatte weder Lust, ihm den Begriff Overtourismus zu erklären, noch die Auswirkungen von Mega-Blockbustern auf das Reiseverhalten von verwöhnten Teenies. Heutzutage setzen die sich, sobald sie allein reisen dürfen, einen Trip an den Drehort ihres jeweiligen Lieblingsstars zuoberst auf ihre Weihnachtswunschliste. Oder fordert man so etwas inzwischen als Anzahlung für die nächste gute Note? Einerlei. So, wie die sich am Ziel ihrer Reise aufführen, ist jedem klar, warum ihre Eltern sie noch so gerne ziehen lassen. Die kleine Insel Skellig Michael in Irland, wo sich der Star-Wars Held Luke Skywalker versteckte, kann sich vor dem Ansturm der Massen jedenfalls nur noch durch eine strenge Limitierung der Tagesbesucher retten. Volterra, zum Tummelplatz von Pseudo-Draculas verkommen, wird von vernunftbegabten Erwachsenen gemieden. Und sogar hier in der Schweiz muss sich das Berggasthaus «Aescher – Wildkirchli» im Appenzell vor selbsternannten Influencern schützen. Tja – und jetzt halt diese Yakas beim Brauiweiher im bald nicht mehr so verträumten Wislig.
Die erste Besucherin trug ein tiefblaues, knöchellanges Gewand. Auch sonst hatte sich die junge Frau mächtig ins Zeug gelegt, um wie eine ihrer Heldinnen auszusehen: Weisses Make-up, schwarz umrandete Augen, das silberne Dreieck auf der Stirn – der ganze Kitsch halt. Ihr Blick sagte: «Haut ab, ihr stört mein Bild.» Klar, wir sassen ja auf der Holzbank am Weiher, genau da, wo die Yaka-Helden Skria und Prevo sich zum ersten Mal geküsst hatten, just an dem Ort, wo sie später diese Pflanze fanden, das «quirlige Tausendblatt», das den verrückten Anführer der Yakas endlich von seinem Wahn erlöste. Sie wollte diesen Ort ganz für sich.
Das wollten dann auch die dreihundert Pseudo-Yakas, die sich am Wochenende darauf mit dem 640er vom Bahnhof Illnau zum Brauiweiher chauffieren liessen. Zum Glück kamen sie erst tröpfchenweise, über den Tag verteilt. In einem Bus haben hundert Leute Platz, wenn sie sich schön aneinander kuscheln. Am Sonntag darauf wurde der erste Gelenkbus eingesetzt. Ab dann war es, als hätten ein paar Touristen-Schleusenwärter irgendwo ihre Tore ganz weit aufgemacht.
Bald hagelte es wütende Beschwerden auf der Gemeinde, von wegen Unordnung, Ruhestörung und so. Das war neu für unser verschlafenes Dorf, das bisher harmlose Probleme hatte: Etwas Ärger mit Römern und Alemannen, Uneinigkeit wegen einer Mehrzweckhalle und neuerdings die Plage dieser Unterwasserpflanze im Brauiweiher. Keiner mag es, wenn ihn beim Schwimmen etwas am Bauch kitzelt, das verstehe ich, geht mir auch so.
Plötzlich stellten sich ganz andere Fragen: Wie schaufelt man an Wochenenden und in den Ferienzeiten im Halbstundentakt zwei- bis dreihundert Personen von einem Bahnhof zu einer Bushaltestelle, die lediglich aus einer Rohrtafel am Strassenrand besteht? Wer sorgt dafür, dass die Wartenden sich nicht gegenseitig auf die Fahrbahn schubsen? Es wurden Gitter aufgestellt und Schleusen eingerichtet und natürlich auch mobile Toiletten. Hitzig über die Bedingungen internationaler Tickets diskutiert. Immerhin: die Frage «wer bezahlt das alles?» war schnell vom Tisch, als der Hersteller der Yaka-Merchandising-Produkte die Kosten für einen regulären, im Halbstundentakt fahrenden Bus zwischen dem Bahnhof und dem Brauiweiher übernahm. Zumal der die abgelegenen Weiler von Weisslingen gleich mitbediente.
Nachdem der Brauiweiher mit drei Meter hohem Drahtzaun gesichert und einem soliden Eingangstor versehen worden war, durften Kevin und ich die blauen Möchtegern-Yakas kontrolliert in den Park einlassen. Abends sorgten wir dafür, dass sich keiner einschliessen liess. Anfangs waren viele Wisliger genervt. Angeblich erschreckten die weissen Gesichter die Kinder und veränderten das Ortsbild zu stark. Doch nach und nach begann man sich im Dorf zu freuen. Gastronomen, Bäcker, Kiosk-Besitzer, Gärtner – jeder konnte ein kleines Produkt zum Thema Yaka beisteuern. Und das Beste: Die Pflanzenplage im Brauiweiher ist erledigt. Jeder echte Yaka-Fan steigt ins Wasser, reisst ein quirliges Tausendblatt aus und nimmt es mit nach Hause. Souvenir.
«Der Spuk ist in drei Monaten vorbei», sagt Kevin gerade.
Nein Kevin, ganz gewiss nicht.
Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.
(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)