Hüttikon – effizient unterwegs
Zeitreise mit Kinderspielzeug
Im 491er ab Zürich Zehntenhausplatz nach Hüttikon. Am Fensterplatz eines Viererabteils sitzt ein vier- oder fünfjähriger Junge. Nach ein paar Minuten Fahrt öffnet er die Plastiktüte auf seinen Knien und beginnt, ihren Inhalt zu befreien. «Dafür haben wir keine Zeit, Lukas», sagt der alte Mann neben ihm, vielleicht sein Grossvater. Der Bub hat es aber bereits geschafft. Offenbar sieht er die flache Schachtel vor ihm zum ersten Mal. Unter einem durchsichtigen Deckel liegen eine schwarz-rote Mütze, eine blaue Zange, eine Plastikkelle und eine Trillerpfeife. Irritiert legt das Kind seine Stirn in Falten. Selbst wenn es lesen könnte, dürfte die Überschrift «Schaffner-Set» kaum zur Klärung beitragen. Der Grossvater erklärt dem Bub aber gleich begeistert, dass er jetzt zuhause Bahn- oder Buskontrolleur spielen könne.
Bahn- oder Buskontrolleur spielen? Was mag sich der Kleine darunter vorstellen? Ob ihm die Arbeitsabläufe von Kontrolleuren vertraut sind? Dafür müsste er bereits einmal mit einem Fernzug gefahren und einem Zugbegleiter begegnet sein, dem uniformierten «Schaffner» und seiner beeindruckenden Tasche mit allerlei Gerätschaften drin, inklusive Lochzange und Pfeife. Vielleicht hat Lukas unterwegs einmal ein Kinderbillet erhalten und weiss jetzt, dass dieses mit der Zange gelocht wird, damit die Fahrt ihre Gültigkeit erhält. Er wird jedoch nicht wissen, dass damit eine Handlung vollzogen wird, die während mehr als hundertfünfzig Jahren fast unverändert den öffentlichen Verkehr prägte: Die manuelle Abwicklung von Kauf und Kontrolle einer Reise von A nach B.
Sämtliche für eine Reise relevanten Informationen wurden in der Postkutschenzeit handschriftlich festgehalten. Je nach Transportunternehmen waren die sogenannten Reise-Scheine schlichte kleine Zettel oder briefartige, mit allerlei grafischen Elementen ausgeschmückte Dokumente. Vordrucke erleichterten dem Transporteur zwar zunehmend sein Arbeitsleben, einzelne Informationen wie Ziel, Datum sowie Bezahlbestätigung mussten jedoch immer noch handschriftlich eingetragen werden. Die bunten Kartontäfelchen, die Kinder wie Lukas allen technologischen Weiterentwicklungen zum Trotz überraschenderweise heute noch in ihren «Schaffner-Sets» finden, lösten im 19. Jahrhundert eine regelrechte Revolution im Bezahlwesen der stetig wachsenden Mobilitätsindustrie aus.
Ihren Anfang nahm sie 1836 in einer unbedeutenden Bahnstation namens «Milton», irgendwo zwischen Carlisle und Newcastle in Englands Nordwesten. «Milton», später in «Brampton» umbenannt, verzeichnete kaum Fahrgäste, was seinen neuen Bahnwärter Thomas Edmondson wurmte, war er doch jung und voller Tatendrang. Fast noch mehr als die wenigen Kunden aber schien ihm die Zettelwirtschaft seiner Bahnlinie auf die Nerven zu gehen. Es ist zu vermuten, dass ihn – in einer Zeit, in der Schreibmaschinen ihren Triumphzug antraten – auch das Handschriftliche daran störte. Im Zentrum seiner Erfindung standen kleine Kartontäfelchen, die mit den möglichen Fahrzielen ab Station «Milton» bedruckt wurden. Darum herum baute der Tüftler einen passenden Holzkasten, wobei ihm seine Berufsausbildung zum Möbelschreiner gelegen kam. Im Kasten hatte jedes mögliche Fahrziel seine eigene Röhre, durch die mittels einer Gegengewichtsvorrichtung jeweils das nächste Ticket nachgeschoben wurde. Edmondson entwickelte seinen Prototypen weiter zu einer Maschine, die die Fahrkarten stapelweise und mitsamt Seriennummern druckte. Für ihn selbst und seine Nachkommen wurde der Apparat – dank Patent und Lizenzgebühr – eine Geldmaschine. Für die Bahnunternehmen war sie ein willkommenes System, das nicht nur für Ordnung sorgte, sondern auch für eine enorme Zeitersparnis bei der Produktion von Fahrkarten, ihrem Verkauf und ihrer Abrechnung.
Lukas und sein Grossvater steigen in Hüttikon aus. Ob der Ältere der beiden noch weiss, dass auch hier – nur wenige Schritte von der Bushaltestelle «Dorf» entfernt – einst eine revolutionäre Erfindung gelang? Johann Jakob Güller, der im elterlichen Bauernhaus als Stempelmacher tätig war, erweiterte 1865 den damals gebräuchlichen zweizeiligen Datumsstempel durch ein raffiniertes System von drehbaren Scheibchen. Sie erlaubten es, durch wenige Handgriffe im Stempel jedes beliebige Datum einzustellen. Das war davor nur durch mühseliges Auswechseln von Stiften möglich gewesen. Nicht nur die Oberpostdirektion in Bern, sondern viele europäische Postdirektionen waren erfreut und setzten den bald als «Schweizer Stempel» bekannten Datumsstempel gerne ein. Die Hüttiker Stempelfabrik Güller prägt heute noch das Ortsbild, auch wenn die Nachfrage nach Stempeln in den vergangenen 150 Jahren deutlich nachgelassen hat.
Handstempel und Kartonbilletts sind aus dem heutigen Reisebetrieb fast vollständig verschwunden. Sollte Lukas an diesem für ihn möglicherweise mysteriösen Spiel aber Gefallen finden, wird er zu Hause das Rad der Zeit zurückdrehen und seine Kartonbillette wie anno dazumal mit der Lochzange veredeln.
Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.
(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)