Greifensee – entschleunigt unterwegs
Auf direktem Umweg zur totalen Entspannung.
Oder: In wenigen Minuten von 100 auf 0.
Schweiss. Literweise. An sonnigen Wochenenden wird der Greifensee zum Mekka der Fitness-Freaks. Sie stehen voll in die Pedalen und schaffen die rund 20 Kilometer um den See auf dem Velo in einer halben Stunde. Oder auf den Inline-Skates in 50 Minuten. Und ja, man kann die Strecke auch rennen. Sie entspricht ungefähr einem Halbmarathon. Ist in zwei Stunden abgelaufen. Und man wäre sogar noch schneller, wenn da nicht all die Freizeit-Pläuschler ohne jegliche sportliche Ambitionen unterwegs wären. Frührentner auf dem E-Bike, Kleinkinder auf dem Laufrad, junge Eltern mit Kinderwagen, Hündeler. Sie sorgen für enormes Stresspotential, denn jede Sekunde zählt. Immerhin geht’s darum, die persönliche Bestzeit zu unterbieten. Oder den Ehrgeizling auf dem teuren Rennvelo zu überholen. Sport ist nicht lustig, das ist eine ernste Angelegenheit. Darum schauen die Joggerinnen, die Velofahrer oder die Inline-Skater auch so verbissen. Lächeln? Das sparen sie sich für den Blick auf ihren gestählten Body im Spiegel auf.
Zugegeben: Auch ich bin schon unzählige Male wie von der Tarantel gestochen um den See gekurvt. Auf dem Mountainbike oder in den Laufschuhen. Für die Gesundheit. Für die Fitness. Zum Abnehmen. Streng war es immer, stressig auch, manchmal sogar gefährlich. Kein Wunder. Wenn sich der halbe Kanton Zürich rund um den Greifensee austobt, kann es schon mal zu Kollisionen kommen. Oder zumindest zu lautstarken Auseinandersetzungen. Da gesellt sich zum hohen Puls ein ebenso hoher Adrenalinspiegel. Und die ganze Freude ist weg. Schade.
Jetzt aber kommt die gute Nachricht: Es geht auch anders. Entspannter. Fröhlicher. Einfach besser. Versprochen. Ich hab’s nämlich ausprobiert. Hab sämtliches Sportgerät zuhause gelassen. Ausser dem Bikini. Aber das ist ja kein richtiges Sportgerät. Also. Ich nehme die Buslinie 704 der VBZ, die ab Zürich-Klusplatz Richtung Greifensee fährt. Rund eine halbe Stunde dauert die Fahrt bis Volketswil, wo ich in den 727er der VBG umsteigen werde. Erstaunlich schnell. Immerhin muss der Adlisberg überwunden werden. Und der ist an der höchsten Stelle 700 Meter über Meer. Mit dem Velo würde ich ganz schön ins Schnaufen kommen. So aber sitze ich bequem im Bus und komme mir fast ein bisschen vor wie eine Touristin. Die Aussicht ist aber auch wirklich etwas Besonderes: Der Greifensee, auf dem wie kleine Spielzeuge einige Schiffe schaukeln. Drumherum als sattgrüner Gürtel das Ufer, das unter Naturschutz steht. Und dahinter erhebt sich das Zürcher Oberland. Ein paar Kurven später erreichen wir schon Fällanden. Wir passieren die Glatt, die aus dem Greifensee fliesst, und sind bald schon in Volketswil.
Hier steige ich um in einen weissen Bus der Linie 727. Er fährt mich in wenigen Minuten ins Städtchen Greifensee, das direkt am See liegt. Friedlich ist es hier zwischen den gepflegten, historischen Häusern. Es ist gerade Mittag, und da und dort dringt leises Gelächter, das Klappern von Besteck und Geschirr aus den geöffneten Fenstern. Feine Gerüche aus den Küchen mischen sich mit dem Duft der Kräuter, die in Töpfen oder kleinen Vorgärten wachsen.
Unwillkürlich kommen Feriengefühle auf. Fast ist es wie damals als Kind, als ich mit den Eltern erstmals im Ausland in den Ferien war. In einem kleinen, italienischen Städtchen. Wo es immer so fein gerochen hat, wenn die Mahlzeiten bei offenem Fenster zubereitet wurden. Und wo man der Hitze entfloh, indem man eine kühle, dunkle Kirche betrat. Genau das mache ich jetzt auch. In unmittelbarer Nähe steht eine kleine reformierte Kirche. Das Besondere: Der Grundriss ist dreieckig. Das ist einzigartig für eine gotische Kirche in Europa. Ich trete ein. Und es erwartet mich eine besondere Überraschung. Ein Organist, und wie es scheint ein sehr begabter, spielt auf der Orgel. Der kleine Kirchenraum ist erfüllt von wunderbarer Musik. Ich setze mich und höre einfach nur zu. Orgelmusik schafft eine spezielle Atmosphäre. Die kraftvollen und doch feinen Klänge umgeben mich wie ein schützender Umhang. Die Orgel – Königin aller Instrumente. Und bestes Mittel, um zur Ruhe zu kommen.
Nach einiger Zeit verstummt das Orgelspiel. Ich gehe wieder hinaus an die Sonne. Die reale Welt hat mich wieder. Und jetzt? Eine Runde schwimmen in der lauschigen Badi seeabwärts? Oder mit dem historischen Dampfschiff Greif nach Niederuster tuckern? Oder die Naturstation Silberweide ganz oben am See besuchen?
Ich überlege – und entscheide. Heute nichts von alldem. Keine Planung. Kein Programm. Kein Stress. Gar nicht so einfach. Ich setze mich auf eine Holzbank direkt am Seeufer. Lausche den Wellen, die an den Steg plätschern. Schaue den Fischern zu. Den Segelschiffen, die sich lautlos übers Wasser bewegen. Und es gelingt: Der Alltag rückt in weite Ferne. Zeitdruck? Jetzt nicht. Denn jetzt geniesse ich einfach den Tag. Herrlich. Ganz entspannt nehme ich am späteren Nachmittag den Bus zurück. Zügig geht’s voran Richtung Adlisberg. Der Greifensee wird kleiner und kleiner. Bald bin ich wieder in der Stadt. Erholt. Entschleunigt. Und verlasse den Bus mit einem Lächeln.
Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.
(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)