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Lindau – schwimmend unterwegs

Grafstal, der Feenritt und die Drückerfrage

Mittwoch. Ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Was man jetzt müsste: Raus aus der Stadt, rein ins Vergnügen, einfach mal Blau machen. Sonne auf der Haut, die Seele baumeln lassen, den Kopf verlüften. Ein bisschen Strandfeeling, kristallklares Wasser, ein schattiges Plätzchen vielleicht. Und: Nicht zuviele Menschen.

Schnelle Recherche im Internet: «Schönstes Freibad im Kanton Zürich». Treffer: 12’000. Logisch, wer will schon nicht der/die Tollste sein! Wir entscheiden uns für Lindau. Nein, nicht Lindau am Bodensee; Lindau an der Kempt. Dort, in dem zur Gemeinde gehörenden Dörfchen Grafstal (der Name wird wie «Schafstall» ausgesprochen, einfach mit einem Graf statt einem Schaf vor dem Stall), eingeklemmt zwischen Autobahn und einem ehemaligen Sumpfgebiet mit dem unwirtlichen Namen «Elend» auf der einen sowie dem ehemaligen Maggi-Areal auf der anderen Seite, wartet ein wahres Kleinod auf Wasserratten und Sonnenanbeterinnen.

Vom Bahnhof Effretikon geht es mit der Linie 655 hinaus zum Grafstaler Unterdorf, von dort ist die schmucke Badi in fünf Minuten zu Fuss erreichbar. Der 655er: In Zeiten wie diesen, in denen die Kodierung und Verkürzung zum Volkssport geworden ist, stolpert man ja andauernd über irgendwelche Zahlencodes, die einem irgendwas sagen sollen. Zum Beispiel 81: Die 8 steht für den achten Buchstaben im Alphabet, die 1 für den ersten, ergibt übersetzt also H und A, was wiederum die Abkürzung für «Hells Angels», die Rockergang, ist. Und jetzt die 655: F, E, E. Oh, wir sind mit einer Fee unterwegs! Fehlt nur noch, dass der Niederflurbus nicht mit Diesel, sondern einem Tank voller Einhornmilch übers Land schwebt.

Keine zehn Minuten dauert der gemütliche Feen-Ritt durch Aussenquartiere und Überlandstrasse hinaus nach Grafstal. Flarzbauten hier, hübsche Bauernhäuser dort, zwei Beizen (die «Tanne» und der «Frieden»), ein grosses Schulhaus, ein kleines Spritzenhaus und ein Neubauquartier, durch das hindurch muss/darf/soll, wer zum Schwimmbad gelangen will. Drei Damen ziehen an diesem Mittag im 23 Grad warmen Becken ihre Bahnen, eine vierte scheint dem Teint nach zu urteilen schon im Februar aus dem Ozonloch gefallen zu sein – ansonsten: MENSCHENLEER. Während auf der angrenzenden A1 der Verkehr hektisch brandet, herrscht hier entspannte Gelassenheit. Mit ein bisschen gutem Willen lässt sich sogar das Dröhnen der ostwärts donnernden Laster bald schon nurmehr als karibisches Meeresrauschen deuten. Na gut: Mit ein bisschen viel gutem Willen.

Apropos Entspannung und Gelassenheit – zugegeben, der Übergang ist jetzt ein bisschen abrupt, aber wenn nicht jetzt, dann geht es nach einem Schwumm im Grafstaler Blau und einem Happen aus der vorzüglichen thailändischen Badiküche garantiert wieder vergessen – wissen Sie also, weshalb es Menschen gibt, die rasch einmal die Contenance verlieren, wenn der Bus im Verkehr steckenbleibt, währenddessen sie den morgendlichen Stau im eigenen Auto brav über sich ergehen lassen? Ein Verkehrspsychologe hat es einmal wiefolgt erklärt: Es hat mit Ausgeliefertsein zu tun und Fremdbestimmung. Geraten wir mit dem eigenen Auto in den Stau, so sind wir selber Schuld. Und mit uns selber, da schimpfen wir bekanntlich nicht allzu gerne. Bockt hingegen der Bus: Busfahrers Schuld! Sieht sich der gestresste Passagier erst einmal in seiner persönlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt, so stellt sich gemäss dem Verkehrspsychologen das äusserst unangenehme Gefühl der Unterlegenheit ein. Und dieses ist ein Aggressionstreiber par excellence, vor allem, wenn ein vermeintlich Schuldiger ausgemacht wird, dem man ans Bein pinkeln und die Meinung geigen kann; der Busfahrer eben, die Buslinie, der ganze Busbetrieb halt. Drohungen und Verwünschungen sind die Keulen des Unterlegenen.

Drei Bahnen Brustschwumm, zwei kurze Nickerchen, ein Papayasalat, dann meldet sich im Grafstaler Schwimmbad des Werktätigen Pflichtgefühl wieder. Also einpacken, duschen, losmarschieren. Pünktlich auf die Minute fährt der Bus im stark abfallenden Unterdorf vor, um der selbstverordneten Auszeit ein velourbezogenes Ende zu setzen. Die Fee, also der 655er, zaubert uns in wenigen Minuten wieder nach Effretikon, weg von der ferienstimmigen Entrücktheit, zurück in die Betriebsamkeit kleinstädtischen Ausmasses. Bald heisst es Aussteigen. Und mit dem Aussteigen ist es bekanntlich so eine Sache: Wann genau drückt man eigentlich den Knopf? Gleich nachdem der Bus die letzte Station verlassen hat? Nach Ankündigung der nächsten Haltestelle? Oder doch erst kurz vor Erreichen des Zielortes, dannzumal, wenn der Bus langsam abbremst? Es stellt sich ebenso die Frage, ob Frühdrücker ihren Sitzplatz schneller verlassen als Spätdrücker. Oder ob spät drückende Drücker den vom Frühdrücker durch dessen frühes Drücken schon früh erzielten Vorsprung im letzten Moment wieder wettzumachen vermögen.

Wir lassen es darauf ankommen und lehnen uns entspannt zurück. Effretikon ist sowieso Endstation. Frühdrücken, Spätdrücken – spätestens an der Endstation erübrigt sich die Druckfrage sowieso. Der ganze Druck ist weg.

Badi-Tipps im VBG-Marktgebiet

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Ausflüge & Freizeit#Gute-Fahrt-Geschichten
Flavian Cajacob

Flavian Cajacob ist Journalist. Er schreibt, fotografiert und filmt für verschiedene Schweizer Medien, Institutionen und Unternehmen. Flavian Cajacob lebt mit seiner Familie in Zürich.

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