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Wangen-Brüttisellen – überraschend unterwegs

Der verlorene Enkel

Als Butzen-Toni an diesem kühlen Morgen trotz seines fortgeschrittenen Alters leichten Fusses von seinem Bergbauernhof nach Urigen hinunter stieg, hatten die ersten Winterboten bereits die obersten Zacken und Felsschrunden im gegenüberliegenden Brunnital weiss überzuckert.

„Junge Mann, scheene Wetter heute!“ begrüsste schmunzelnd mit sympathischem fremdländischen Akzent der neue Frühschichts-Fahrer seinen knorrigen Gast, der sich nach einem freundlichen, aber verschämten „Jaja, gwiss äf Ehr“ mit seinem ebenfalls bejahrten, abgegriffenen Rucksäcklein in den hinteren Teil des noch leeren Postautobusses setzte.
Toni mochte diesen neuen Postkutscher, dessen Namen (etwas mit itsch oder so) er zwar auf dessen Uniformschild schon ein paar Mal gelesen hatte, aber vermutlich nicht richtig aussprechen könnte. Auf jeden Fall vermisste er den alten Herger nicht, der einem immer die Würmer aus der Nase ziehen wollte, und wenn man das verweigerte, unflätig über das mundfaule aber subventionsgierige Bergbauernpack schimpfte.

Toni schmunzelte zufrieden. Er hatte sich etwas vorgenommen! Eine geheime Reise! Aus dem Tal hinaus, ins Ziribiet zu seinem Enkel Albin, zum Binäli, wie er ihn leise zärtlich nannte.

Auch im Butzen und in der naturgemäss begrenzten örtlichen Gemeinschaft des Bergtales wurde nur flüsternd von Albin gesprochen, der damals mit 5 Jahren, noch bevor er in der Dorfschule von Schwester Anna-Donata das erste Lebens-ABC erlernen konnte, mit seiner Mutter Geborgenheit und Kontrolle der Verwandtschaft verlassen musste, als ruchbar wurde, dass sein leiblicher Vater ein italienischer Gastarbeiter war. In moralischer Überhebung einerseits und andererseits aus verletztem Stolz weigerten sich die beiden Parteien verstockt, versöhnlich aufeinander zuzugehen, was dazu führte, dass im Föhntal über die weiteren Wege von Albin und seiner Mutter nur gerüchtemässige Behauptungen herumgereicht wurden, hinter vorgehaltener Hand wohlverstanden. So waren die Jahre ins Land gezogen, und es schien Toni, als wäre er der einzige geblieben, der die Schwiegertochter und seinen Lieblings-Enkel Albin vermisste.

„Schau Gross-Däädi, eine Mirasch!“ So jubelte klein Albin jeweils, wenn die Armee-Jets über den Klausenpass donnerten und pflichtbewusst übungsmässig die Wiege der Schweiz gegen den Böfei, den bösen Feind verteidigten. „So einer will ich auch werden, Grossvater! Ich werde Militärpilot!“

Butzen-Toni war überzeugt, dass sich Binäli unterdessen seinen Traum erfüllt hatte. Heute wollte er ihn überraschen. Und zwar genau dort, wo dort draussen bei den Zürchern die Armeeflugzeuge starten und landen, neben dem grossen Flughafen. Statt wie üblich auch dieses Jahr an den Altdorfer Martinimarkt zu gehen, hatte er also seinen Sparstrumpf bis auf einen Fünfliber geleert, (den er dann nach geglückter Reise der Mutter Gottes im Getschwyler vorbeibringen wollte) und liess sich nun am Altdorfer Bahnschalter von einer fremdländisch klingenden blonden Beamtin mit hübschen hohen Wangenknochen (vielleicht die Schwester des Bus-Chauffeurs?) für seine Münzbeige ein Ticket aushändigen. Er war froh, dass die Frau ihn nicht kannte und er so seine heimliche Reise unentdeckt fortsetzen konnte.
Dank den geduldigen und hilfreichen Bus-Fahrern der Region erreichte Toni nach ein paar Umsteige-Manövern gegen Mittag endlich den gesuchten Armeeflugplatz und blieb zufrieden vor dem verlassen wirkenden Haupteingang stehen. Er hatte es geschafft! Durch dieses Tor würde sein Binäli herauskommen und zwar in Pilotenuniform! Und er würde sich sicher freuen, nach so langer Zeit seinen Grossvater wiederzusehen, und sie würden sich in die Augen schauen und er, Toni würde wissen, dass er recht gehabt hatte: Sein Binäli war Pilot geworden!

Wen er auch fragte (und er fragte alle, die aus dem Flughafen kamen), niemand kannte einen Piloten namens Albin Arnold. Das Nachmittagslicht verflüchtigte sich bereits in der aufsteigenden Dämmerung, als Toni seinen mittlerweile leergegessenen Rucksack aufhob und niedergeschlagen auf der Landstrasse Richtung Wangen-Brüttisellen davontrottete. Hatte er sich getäuscht? Hatte ihn der sehnliche Wunsch, seinen Binäli als stolzen Piloten zu sehen, genarrt?

Stunden später, eingehüllt in neblige Dunkelheit stolperte Toni durchfroren und schwer betrunken vom Bätziwasser, was er eigentlich dem Bini schenken wollte, auf die Strasse hinaus.

Plötzlich heftiges Hupen und kreischende Bremsen! Durch seinen schnapsverschleierten Blick hindurch konnte Toni die LED-Schrift an der Busfront erkennen: 759 Wangen Dorf-platz. Und dann sah er den erschrockenen Bus-Chauffeur herausstürmen und sich zu ihm herunterbeugen. „Grossvater? Was machst Du da?“
Toni erkannte seinen Albin sofort. „Ich wollte Dich besuchen kommen. Ich dachte, Du seist Pilot geworden!“
„Nein, Grossvater! Das bin ich nicht!“
„Schon recht, Binäli“, entgegnete Butzen-Toni. „“Eigentlich bist Du ja doch ein Pilot: Ein Bus-Pilot eben!“

 

Dies ist eine von 25 «Gute-Fahrt-Geschichten» rund um die Gemeinden des VBG-Marktgebiets. Die Texte wurden von verschiedenen Schweizer Autorinnen und Autoren zum 25 jährigen Bestehen der VBG verfasst und sind unter dem Titel «Unterwegs» auch in Buchform erschienen.

(Die in den Texten geäusserten Meinungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der VBG. Teilweise sind die Geschichten auch frei erfunden.)

#Gute-Fahrt-Geschichten
Hanspeter Müller-Drossaart

Hanspeter Müller-Drossaart ist Schauspieler und Literatursprecher bei Radio und TV. Öffentlich bekannt sind seine markanten Rollengestaltungen in Filmen wie „Grounding“, „Cannabis“, „Die Herbstzeitlosen“, sowie der Titelrolle im Musical „Dällebach Kari“ auf der Thunersee-Bühne. Als Autor veröffentlichte er die Gedichtbände „zittrigi fäkke“, „gredi üüfe“ und „steile flügel“ in Mundart.

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